Social Distancing – Auswirkungen auf die Rechtsarbeit

Social Distancing schafft zwangsläufig Distanz in der Beziehung zwischen Rechtsarbeitenden und Asylsuchenden. Die Begegnungen zwischen Asylsuchenden und Rechtsarbeitenden werden durch diverse physische Distanzvorkehrungen sowie durch Abwesenheiten verkompliziert, formalisiert, verringert oder sogar abgeschafft: Die offenen Beratungen sind gestrichen, Rechtsarbeitende haben physische Kontaktaufnahmen zu reduzieren und von zu Hause aus zu arbeiten, Gespräche werden auf die Telekommunikation verlagert und in den physischen Begegnungen – wenn sie überhaupt noch stattfinden – ist physischer Abstand zu halten. Zudem sind Rechtsarbeitende beschränkt einsetzbar, weil sie zur Risikogruppe gehören oder weil sie an Krankheitssymptomen leiden. Das telefonische Gespräch bedeutet sodann für manche asylsuchende Personen eine (zu) hohe Schwelle für die Kontaktaufnahme.

Social Distancing behindert den Aufbau von Vertrauen zwischen Rechtsarbeitenden und Asylsuchenden und schränkt dadurch den Informationsfluss ein. Vertrauen wirdvor allem durch niederschwellige Gesprächsmöglichkeiten hergestellt: Durchunkomplizierte und sofortige Erreichbarkeit, durch die Möglichkeit, unverzüglich in Kontakt treten, bei Bedarf jederzeit ein Gespräch führen zu können. Und dabei ist die physische Gesprächsführung elementar. Einerseits, weil aus physischer Nähe, durch das konkrete Wahrnehmen des Gegenübers, durch die Erfahrung seiner je eigenen Menschlichkeit, Vertrauen entstehen kann. Andererseits, weil sowohl Anliegen und Bedürfnisse als auch Missverständnisse, Widersprüche und Unklarheiten in der Kommunikation sich häufig erst durch physische Präsenz mit Anwesenheit einer übersetzenden Person – in der direkten Wahrnehmung von spontanen Regungen, Andeutungen und unvollendeten Sätzen – angehen und klären lassen. Zudem kann eine Geschichte, ein Sachverhalt oftmals erst über ein längeres Gespräch hinweg verstanden und erhoben werden. Ein telefonisches Gespräch ist zu all dem (meistens) nicht in der Lage.

Social Distancing beeinträchtigt folglich die Qualität der Rechtsarbeit und damit das Recht der Asylsuchenden, ihre Rechte durchzusetzen. Der Bundesrat nimmt mit seinem Entscheid, die Asylverfahren fortzuführen, die Einschränkung der Rechte von Asylsuchenden explizit in Kauf. Auf der konkreten Ebene bedeutet dies beispielsweise, dass Asylsuchende die Schweiz verlassen müssen, weil sie sich nicht ausreichend gegen einen Entscheid des Staatssekretariats für Migration wehren konnten. Der Entscheid des Bundesrates hat aber auch auf symbolischer Ebene Tragweite. Die Einschränkung der Rechte von Asylsuchenden zeigt, dass diese vor dem Gesetz nicht gleich sind, sie als Bürger*innen zweiter Klasse gelten.

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